Kalender 2006 - Juni

Noctula überquerte unermüdlich den Indischen Ozean und steuerte nun von der Savanne herkommend auf den Regenwald zu. Nie zuvor sah sie einen so weiten, schier endlosen Himmel und darunter gigantische Affenbrotbäume, aus denen ein vielstimmiges Gezwitscher vom prallen Leben sang. Erst im schwülen Dunkel der afrikanischen Nacht hörte Noctula plötzlich Trommelschläge. Aber irgendwo aus dem Dickicht vernahm sie auch bekannte Rufe. Die konnten nur von einer Verwandten stammen, der Bindenfischeule Sanusa. Als Noctula sie fand, geriet sie in ein sonderbares Treffen. Die große Sanusa hockte mit dem kleinen Perlkauz Timentus und dem Woodfordkauz Facilius zusammen. Timentus wisperte gerade besorgt: "Afrika ist ein Moloch des Sterbens", als die Maskeneule in das Gespräch platzte Sie zupfte sich ihr Gefieder zurecht und begrüßte die drei etwas verwundert. "Ich dachte, hier im Paradies der Vogelwelt würde es fröhlicher zugehen." Sanusa und Timentus senkten bestürzt die Blicke. Das Perlkäuzchen wandte sich sogar völlig ob und zeigte dem Gast nur noch seine schwarzen Flecken am Hinterkopf, die wie ein Scheingesicht anmuteten Schließlich durchbrach die Großeule das betretene Schweigen: "Wir warten schon einige Tage und Nächte auf dich, Kundschafterin der Eulen aus den Ländern des goldenen Lichts. Doch wir haben hier keinen guten Ort für das letzte Korn der Weisheit zu bieten", erklärt Sanua unumwunden. "Kriege haben die Menschen geschwächt, und eine bösartige Seuche rafft ganze Jahrgänge dahin. Hör' nur, wie verzweifelt ihre Trommeln klingen. Gestern flehten sie ratlos Ea-Enki, ihren Wasser- und Weisheitsgott an. Und heute begehen sie im Dorf ein rituelles Fest, um die alten Geister ihrer Ahnen zu befragen." Facilius schüttelte sich respektlos. "Ich halte nichts von Orakeln. Ein afrikanisches Sprichwort besagt: Wissen und Weisheit sind wie ein Garten, ohne Pflege gibt es keine Ernte." "Ja", erregte sich Timentus, "und Sippen- wie Glaubenskämpfe führen direkt ins Chaos." Noctula fröstelte und baute sich auf ihrem Rücken wieder einen schrägen Buckel, als wollte sie alle Sorgen darin verstecken: "Die Welt ist so schön und doch arg zerrissen. Werden wir Eulen jemals einen menschlichen Hort für das Weisheitskorn finden?" Alte Zweifel nagten an ihr.

Die Nacht ging und goldgelb färbte sich der Himmel mit dem ersten Sonnenlicht. In den Morgengesang der Vögel mischte sich das klangvolle Spiel eines Daumenklaviers. Timentus stieß Facilius an: "Sieh nur, dort unten, die schwarze Schöne spielt wieder!" Die zwei bekamen glänzende Augen. Noctula stichelte: "Ihr kommt aber leicht ins Schwärmen." "Ach, was weißt du schon", ärgerte sich Facilius. "Sie ist die erste junge Frau, die dieses Instrument beherrscht. Da das Daumenklavier die Seelen der Ahnen ehrt und ihm Heilkraft zugesprochen wird, war es den Frauen seit jeher strikt verboten, ihm Töne zu entlocken. Wir sind einfach stolz auf diese Künstlerin, die aus sich selbst heraus mutig uralte Fesseln abstreift. Noctula schmunzelte gerührt und sah in dem Lichtblick Hoffnungsfunken. Auch für die Mission der Eulen. Für deren Fortgang brauchte die Weitgereiste nicht um Ablösung zu bitten. Facilius war schon bereit, das nächste Staffelstück übernehmen. Der kecke Waldkauz mag einfach Menschen und wird furchtlos ihre Nähe suchen. Als es dämmerte, brach der Eulenvogel Richtung Norden auf ...