Im Land der Schneeulen tickte die Zeit noch noch dem uralten
Werden und Vergehen. Hier kreuzte kein Fischfangschiff, waren keine Forscher
zugange. Ünberührt vom Wandel in der Welt lebten die Tiere ihren
ehernen Rhythmus des Seins. So war die Schneeeule Heri auch nicht sonderlich
erstaunt, dass sich Novatrix für das Leben anderer opferte Sie wusste
einfach, ohne solche Gaben überdauert keine Gemeinschaft. Heri hatte
inzwischen schon viele Kinder bekommen, aber keines war wie ihr jüngster
Sohn, der lebhafte Clarus. Kristallklar war seine Seele. Er konnte keine
Furcht, spielte mit jungen Walrossen und Eisbären, neckte die Robben und
segelte mit Adlern wie Schneegänsen durch die Lüfte. Clarus liebte
alles, was ihn umgab. Die Eulenmutter war nicht mehr die Jüngste, als sie
mit ihrem Sohn in einer leisen Nacht aufbrach. Sie sagte nur: "Komm es ist
soweit, ich muss dir mein Geheimnis zeigen." Sie starteten aus der weiten
Ebene. Schneeflocken tanzten und deckten wieder die vom Wind blank gefegten
Eisfelder zu. Bald erreichten die Vögel jene bizarre Bergwelt, die
fantastisch türkis-blau im fehlen Mondlicht schimmerte. Als die zwei Eulen
auf dem schmalen Grat am äußersten Rand des Eislandes landeten,
ahnte der junge Clarus, in dieser Nacht würde seine Kindheit
enden.
Heri wedelte mit ihren Flügeln den immer noch wohlgeformten
Eistropfen vom Schnee frei und sprach: "Sieh, Clarus das ist des letzte
Weisheitskorn der Weit. Novatrix, eine Schleiereule aus Feuerland, hat es
gerettet. Es muss hier verborgen bleiben, bis eine Eule kommt und es
zurückfordert. Von nun an bist du der Wächter dieses Schatzes. Du
musst hier bleiben, denn die Zugvögel berichten, die Menschen und ihre
Maschinen rücken unserem Land immer näher. Man weiß nie, wann
sie eintreffen." Der junge Vogel schaute sich ernst um: "Ich wusste ja, dass
wir Eulen die Hüter der Weisheit sind, aber in dieser Einsamkeit?"
"Weisheit sprießt nur in einer gedeihlichen Stille. Aber die gibt es auf
der Erde kaum noch", erklärte Heri. "Dennoch, die Welt kann sich ja
ändern. Wir müssen diese gefrorene Chance für sie bewahren." Mit
diesen Worten nahm die Mutter Abschied von ihrem Sohn. Clarus spähte
hellwach, aber sehr verlassen in die Nacht. Kein Laut war vernehmbar, nur der
Wind pfiff mal leiser, mal lauter.
Bei Lichte betrachtet, sah der Ort
wunderschön aus. Der schmale Grat bog sich wie eine Brücke über
ein weites Wasser. Auch hier erwachten mit den ersten Sonnenstrahlen die
Robben, Wale, Vögel, und ein listiger Schneefuchs schaute gelegentlich
vorbei. Clarus war erleichtert, er musste nicht wirklich einsam sein, sondern
nur ein neues Leben beginnen. Aber weil er ein Geheimnis zu hüten holte,
umwehte den Vogel nun etwas Ungewisses, was die Tiere seiner neuen Umgebung
witterten. So erfreute sich Clarus, der Wächter, zwar an der Gegenwart
seiner Nachbarn, lebte aber in sich gekehrt. Irgendwann beobachtete er nur noch
tagein, tagaus den Lauf der Sterne, der Gezeiten und des Windes und bedachte
das Leben an sich. Er konnte bald Stürme voraussagen und wie stark die
Eisschmelze sein wird. Das rettete manchem Getier das Leben. Und wenn seither
die Tiere im Eisland über Clarus redeten, dann nannten sie ihn nur noch
den weißen Weisen vom Grat ... |