In diesem tiefen Wald wohnte der Uhu Oculus nun schon bald 60
Jahre. Er hatte viele Zeiten kommen und gehen gesehen, und wusste die Zeichen
zu deuten. Immer schon spuckte die nahe Großstadt Menschen aus, die
Schutz im Wald suchten, um jenseits aller Zwänge zu sein. Und weil Uhus
als ewig Gejagte auch das Versteck lieben, respektierte Oculus deren Nahe. Auch
Liesas Großmutter gehörte zu jenen Stadtflüchtern. Seit dem
Unfalltod der Eltern lebte nun das Enkelkind auf ihrem entlegenen Waldhof. Am
liebsten hockte Liesa unter der freistehenden Fichte, einem mächtigen
Mutterbaum, der ihr Trost und gute Gedanken spendete, während die
Großmutter Figuren aus Holz schnitt. Winzig kleine und mannshohe.
Überall auf dem Gehöft standen ihre Skulpturen und erzählten
stumm Geschichten über das Wunder des Seins. Oculus gefiel es, wie Liesa
den alten Kräutergarten pflegte. Dabei nannte das Mädchen ihre
Pflanzenfreunde: Lebewesen mit Wurzeln. Beifuss, Eisen- und Johanniskraut,
Lavendel, Rosmarin - Liesa konnte alle ihre Namen und Wirkungen. Doch besonders
hatte es ihr der Salbei angetan. Großmutter hat ihn ihr als ein
bedeutsames Kraut der Weisheit und als Schutzpflanze vorgestellt. Mit der
magischen Kraft des Salbeis heilte die Frau nicht nur ihren Husten, sondern
weihte jede ihrer Holzfiguren mit einem Räucherritual, auf dass sie
langlebig Weisheit verströmen.
Oculus wartete schon einige Wochen
auf die Ankunft der griechischen Eulenboten. Endlich vernahm er ihr nahendes
Gezeter. Cuderus schnaufte: "Hast du diese Gesichter gesehen?" "Ja, ellenlange
- kilometerweit", hechelte Risuna. "Und diese wirre Hektik? gruselig!" Cuderus
wunderte sich indes: "Aber nur ein paar Flügelschläge hinter diesem
Chaos herrscht blanke Stille. Und dieser weit geöffnete Himmel?
wunderschön!" Am Randes des Waldes raunte der Steinkauz: "Irgendwo hier
soll der alte Oculus hausen." Bald schon hörten sie seinen markanten Ruf.
"Uhu, uhu, hierher meine Freunde. Ihr kommt spät!" Cuderus krächzte:
"Wir Südländler leben eben den Moment und nicht nach Fahrplan wie ihr
Deutschen! Schließlich mussten wir uns doch erst einmal genau umsehen."
Er zupfte sich pikiert sein Gefieder glatt und fragte dann skeptisch: "Bist du
sicher, dass just in diesem frustigen Land der Hort für das allerletzte
Korn der Weisheit gedeiht?" Der alte Uhu wiegte bedächtig sein Haupt und
sprach weitsichtig: "Gerade hier, wo die Menschen mit den Schmerzen des Wandels
um meisten hadern, reifen auch die Chancen. Ganz in der Nähe lebt ein
kindliches Wesen, in dem keimt eine bessere Zeit. Aber seht selbst." Die drei
Eulenvögel bezogen sodann einen Beobachtungsposten in den sattgrünen
Wipfeln hoch über dem eigenwilligen Anwesen.
Zuweilen
durchschritten Besucher den Gleichmut der Waldzeit, um sich im Skulpturengarten
der Bildhauerin umzusehen. Liesa beantwortete gerne ihre Fragen: "Warum die
Figuren alle Seele heißen? Großmutter meint, alles hat eine Seele,
auch Pflanzen. Das hier ist die Baumseele einer verstorbenen Linde. Unseren
Vorfahren kannten sie als Baum der Liebe und der Weisheit. Ebenso wie die
Fichte als heiliger Baum des Lebens und des Todes ihnen als Weisheitssymbol
galt. Die Skulpturen sollen auch daran erinnern und zeigen, wie zerbrechlich
Seelen sind. Man muss behutsam mit ihnen umgehen ..." Die herzwarmen Worte des
Kindes rührten sowohl die Besucher als auch die drei wachenden Eulen an.
Der Uhu hatte zweifelsfrei die richtige Wohl getroffen. Oculus aber war zu alt
um die frohe Kunde an den Ausgangspunkt der großen Suche zu tragen. So
entschwebten mit ihr Cuderus und Risuna auf den langen Weg zurück gen
Süden ... |